Digitale Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal | Robert Mangelmann im Interview

Mit dem Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) im Juni 2025 stehen Unternehmen vor der Herausforderung, ihre digitalen Services entsprechend anzupassen. Warum Barrierefreiheit mehr als eine gesetzliche Verpflichtung ist und wie Unternehmen davon profitieren können, erklärt Robert Mangelmann im Interview.

Robert Mangelmann, die firma
Senior Strategy Consultant 

Robert Mangelmann berät Unternehmen, hält Vorträge und coacht Führungskräfte. Nach einer Karriere in einem Finanzkonzern hilft er heute Unternehmen, bei allen Transformationsvorhaben den Fokus auf Kundinnen und Kunden sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu verlieren. 

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bvik: Herr Mangelmann, das Thema digitale Barrierefreiheit gewinnt zunehmend an Bedeutung. Warum ist das so und können Sie kurz erläutern, worum es sich dabei handelt?

Robert Mangelmann: Ab dem 28. Juni 2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft. Das heißt unter anderem: Menschen mit den unterschiedlichsten Einschränkungen muss es ermöglicht werden, auf digitale Inhalte zugreifen zu können. Für bestimmte Unternehmen bedeutet das nun – sofern noch nicht geschehen – sich intensiv mit diesem Thema zu befassen. Denn Barrierefreiheit ist nicht nur eine rechtliche Verpflichtung, sondern auch eine Chance. Unternehmen, die ihre digitalen Services barrierefrei gestalten, setzen nicht nur ein starkes Signal hinsichtlich Inklusion, sondern können auch davon profitieren: Sie erreichen eine größere Zielgruppe, verbessern die Nutzererfahrung für alle und stärken ihr Markenimage.

Welche Unternehmen und digitale Angebote sind von den neuen gesetzlichen Regelungen betroffen?

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz gilt für Unternehmen mit mindestens zehn Mitarbeitern oder einem Jahresumsatz von über zwei Millionen Euro. Insbesondere betroffen sind Anbieter von Hardware-Systemen, Selbstbedienungsterminals, E-Book-Lesegeräten, Telekommunikationsdiensten, Online-Banking, Fahrkartenbuchungen und Online-Shops, die sich an Endverbraucher richten. Dabei reicht bereits ein Online-Terminbuchungssystem oder ein Kontaktformular aus, um in den Geltungsbereich des Gesetzes zu fallen[1].

Wie ist Ihrer Meinung nach der aktuelle Status quo in der Industrie in Bezug auf digitale Barrierefreiheit?

Obwohl das Inkrafttreten des Gesetzes relativ kurz bevorsteht, beobachten wir, dass es in der praktischen Umsetzung noch große Herausforderungen gibt. Eine Untersuchung[2] vom letzten Jahr zeigt, dass 99 % der deutschen Online-Shops derzeit nicht vollständig den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Viele Unternehmen unterschätzen den Umsetzungsaufwand oder sind sich der gesetzlichen Verpflichtungen gar nicht bewusst. In anderen Fällen gibt es Unsicherheiten darüber, was konkret getan werden muss, um eine Website oder App barrierefrei zu gestalten.

Sie unterstützen Unternehmen dabei, ihre digitalen Angebote hinsichtlich Barrierefreiheit zu auditieren. Wie gehen Sie ein solches Projekt an?

Ja, wir haben hierzu sogar einen 5-Punkte-Plan entworfen, der ein planvolles Vorgehen sicherstellt[3]. Im ersten Schritt empfehlen wir Unternehmen, gemeinsam mit Rechtsexperten zu prüfen, ob das Unternehmen von den Normen betroffen ist und wie handeln muss. Dies ist insbesondere dahingehend interessant, da Unternehmen, die beispielsweise Webshops in den USA betreiben, andere rechtliche Anforderungen zu beachten haben als Unternehmen mit Webshops in Deutschland.

Im Anschluss führen wir eine gründliche Bestandsaufnahme durch: Welche digitalen Angebote existieren und inwieweit entsprechen die bestehenden Lösungen bereits den Barrierefreiheitsanforderungen? Hierfür empfiehlt sich ein gründlicher Audit, bei dem verschiedene Seitentypen und mobile Anwendungen sowie die darin enthaltenen Interaktionselemente auf ihre Barrierefreiheit geprüft werden. Bereits in diesem Audit kommen assistive Technologien zum Einsatz, wie sie beispielsweise im Alltag von eingeschränkten Menschen genutzt werden, um für sie ein bestmögliches Nutzungserlebnis zu gewährleisten. Als Ergebnis des Audits werden klare Maßnahmen definiert und technische sowie gestalterische Anpassungen geplant. Für die Umsetzungsphase empfehlen wir dann und unterstützen auch dabei, das Ergebnis der Anpassungen mit Gruppen von Nutzerinnen und Nutzern, die eingeschränkt sind, zu testen.

Welche Herausforderungen und Fallstricke begegnen Unternehmen häufig bei der Umsetzung?

Ein häufiger Trugschluss ist es, Barrierefreiheit als reines Design-Thema zu betrachten. Dabei geht es um weit mehr als Farbkontraste und größere Schriftgrößen – es müssen auch technische Aspekte berücksichtigt werden, wie der korrekte Einsatz von Headline-Strukturen, die Gewährleistung einer Tastatur-Navigation in erwartungsgemäßer Reihenfolge und Screenreader-Kompatibilität. Zudem wird oft unterschätzt, dass Barrierefreiheit ein kontinuierlicher Prozess ist. Unternehmen sollten frühzeitig Entwickler, Designer und Content-Manager schulen, um langfristig barrierefreie Inhalte sicherzustellen.

Können Sie Beispiele für erfolgreiche Umsetzungen nennen?

Kürzlich haben wir einen großen deutschen Finanzdienstleister dabei begleitet, seine Website auf die Anforderungen der Barrierefreiheit hin anzupassen. Dabei wurden nicht nur gesetzliche Vorgaben erfüllt, sondern auch die Benutzerfreundlichkeit insgesamt verbessert – mit positiven Auswirkungen auf das Nutzungserlebnis für alle Nutzerinnen und Nutzer. Auch Anbieter von Online-Shops, mit denen wir zusammengearbeitet haben, berichten häufig von einer besseren Kundenbindung und steigenden Umsätzen, da sie mit den Maßnahmen ihre Conversion-Rate verbessert haben.

Bemerkenswert hierbei ist, dass in fast allen durchgeführten Audits der Einsatz von assistiver Technologie bemängelt werden musste. Zum Zeitpunkt der Erstellung der jeweiligen Webseite oder dem letzten Relaunch existierten schlichtweg keine Anforderungen, die Webseite mit Screenreadern vorlesen zu lassen oder mit der Tastatur erwartungskonform bedienbar machen zu können. Und diese Punkte sind heute in der Regel auch nicht Gegenstand eines Tests vor einem Livegang. Mit der Identifizierung dieser Punkte und der Behebung dessen meist durch die unternehmensinternen IT-Abteilungen oder deren Agenturen ist schon ein großer Schritt in Richtung Barrierefreiheit getan.

Welche Empfehlungen haben Sie für Unternehmen, die sich mit digitaler Barrierefreiheit befassen wollen?

Der wichtigste Rat ist: Frühzeitig handeln! Mit Blick auf die enge Timeline bis Mitte diesen Jahres, zu der die Anforderungen durch die Unternehmen umgesetzt sein müssen, ist es sinnvoll, so schnell wie möglich eine Bestandsaufnahme durchzuführen und die Anforderungen an die Barrierefreiheit zeitgerecht umzusetzen, um keine Sanktionen zu riskieren. Darüber hinaus sollte Barrierefreiheit als langfristiges Qualitätsmerkmal verstanden werden, einen wertvollen Beitrag zum Nutzungserlebnis der Webseite für alle Nutzerinnen und Nutzer liefert und damit auch wirtschaftliche Vorteile bringt.

 

[1] https://www.diefirma.de/de/blog/barrierefreiheit-website-pflicht

[2] https://www.heise.de/news/Studie-zeigt-99-Prozent-der-Onlineshops-nicht-barrierefrei-10179975.html

[3] https://www.diefirma.de/de/blog/barrierefreiheit-in-fuenf-schritten


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