Keine Panik: Ansgar Hein im Gespräch zu digitaler Barrierefreiheit

Ab dem 28. Juni 2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft, in Unternehmen sind aber noch viele Fragen offen. Ansgar Hein ist Experte zu dem Thema und erklärt im Gespräch, wieso alle von Barrierefreiheit profitieren und wo Sie am besten anfangen.

Ansgar Hein, Think B2B
Marketingberater & Interim Marketing Manager

Ansgar Hein ist Interim Marketing Manager und B2B-Marketingberater mit über 20 Jahren Erfahrung. Er kennt die Strukturen in Unternehmen sowie das Agenturgeschäft und verbindet strategische Expertise mit operativer Umsetzung. In über 180 Projekten hat er Markenstrategien entwickelt, Kampagnen gesteuert und mehr als 60 Website- sowie App-Launches verantwortet. Zwischen 2003 und 2010 gewann er sechs BIENE-Awards für die besten barrierefreien Websites und engagierte sich mit dem Best of Accessibility Symposium und dem Online-Magazin Barrierekompass intensiv für Accessibility im Internet.

Bildquelle: © Privat

 

bvik: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Kriterien eines nutzerfreundlichen und barrierefreien Zugriffs auf Websites und Apps?

Ansgar Hein: Das wichtigste ist, dass Nutzer*innen mit ihren unterschiedlichen Anforderungen und Fähigkeiten in den Mittelpunkt gerückt werden. Barrierefreiheit kann nicht gegen Ende eines Entwicklungsprozesses angefügt oder dazuprogrammiert werden. Ein nutzerfreundlicher und barrierefreier Zugriff auf Websites und Apps bedeutet unter anderem, dass Inhalte klar strukturiert und leicht verständlich sind, sodass sie von allen Nutzern, unabhängig von möglichen körperlichen oder kognitiven Einschränkungen, problemlos genutzt werden können. Beispielsweise nutzen blinde Menschen sogenannte Screenreader, um sich Websiten vorlesen zu lassen und sind daher auf bestimmte technische wie strukturelle Eigenschaften angewiesen.

Weiterhin sollte die Navigation möglichst intuitiv sein, mit klaren Menüpunkten und einer einfachen Bedienung sowohl mit der Maus als auch über die Tastatur oder einen sehr kleinen Touchscreen am Handy. Texte müssen gut lesbar sein, mit ausreichendem Kontrast und einer skalierbaren Schriftgröße. Bilder und Multimedia-Inhalte sollten mit Alternativtexten oder Untertiteln versehen sein, um sie auch für Screenreader oder hörgeschädigte Nutzer zugänglich zu machen. Formulare und Interaktionsmöglichkeiten müssen klar verständlich und tastatursteuerbar sein und Fehler sollten direkt mit konkreten Lösungsvorschlägen kommuniziert werden.

Kurzum: Es gibt aus meiner Sicht keine Abkürzung mit einer Fokussierung auf wenige wichtige Aspekte oder Kriterien. Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) sind nicht ohne Grund rund 100 Seiten lang und bilden damit die Grundlage für Barrierefreiheit. In der Praxis profitieren alle von den Vorteilen, die barrierefreies Webdesign mit sich bringt – deshalb bevorzuge ich auch den Begriff „Universal Design“, mit dem allen Menschen eine angenehme Nutzungserfahrung ermöglicht wird.

Wie 2018 im Kontext DSGVO werden auch Ende Juni mit der Einführung des BFSG (Barrierefreiheitsstärkungsgesetz) Abmahnwellen erwartet. Was raten Sie Firmen, wie sie damit umgehen sollten?

Durchatmen und Ruhe bewahren. Es sind ja auch längst nicht alle Unternehmen davon betroffen. Daher lohnt sich ein Blick in die Leitlinien zur Anwendung des BFSG vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Dort gibt es eine sehr praxistaugliche Erläuterung des Gesetzes und praktische Beispiele. Damit ist dann schonmal klar, ob man als Unternehmen überhaupt in den Geltungsbereich des Gesetzes fällt. Und wenn die Antwort „Ja“ lautet, dann empfehle ich die Kontaktaufnahme mit einem erfahrenen Dienstleister für barrierefreies Webdesign. Leider ist es nicht immer ganz einfach, echte Experten von Möchtegern-Experten zu unterscheiden.

Mein Tipp: Entweder prüfen, ob eine IAAP-Zertifizierung vorliegt (International Association of Accessibility Professionals), oder ein Blick auf die Liste empfehlenswerter Agenturen beim BITV-Test werfen. Eigeninitiative ist lobenswert, doch ohne Fachwissen sind Fehler wahrscheinlich – daher lohnt sich professionelle Unterstützung. Sonst droht im schlimmsten Fall, und trotz bestmöglicher Absichten, ein Strafgeld oder eine Abmahnung.

Welche Aspekte sehen Sie kritisch im Kontext der Panik & Unklarheit, die häufig mit derartigen Gesetzeinführungen kurzfristig einhergeht?

Das Gesetz ist nicht neu und bereits seit Mitte 2021 verabschiedet. Weil aber zum 28. Juni 2025 die Umsetzung für vom BFSG betroffene Unternehmen verpflichtend ist, schießen überall Anbieter aus dem Boden, die von der Überprüfung bis zur Umsetzung zahlreiche Dienstleistungen anbieten. Unnötig zu sagen, dass Seriosität und Qualität solcher Angebote oftmals sehr fragwürdig sind. Da wird mit der Unwissenheit von Unternehmen Geld verdient, ohne dass die Probleme wirklich gelöst werden. Ein unangenehmer Nebeneffekt ist auch, dass die Panikmache durch eben jene Unwissenheit verstärkt wird. Fast täglich sehe ich reißerische Posts oder Newsletter, die dramatische Szenarien zeichnen. Das sorgt für Panik und führt zu überstürzten Entscheidungen.

Welche Unternehmen sind vom BFSG betroffen, und gibt es Ausnahmen oder
besondere Regelungen für KMU?

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz zielt vor allem auf Unternehmen, die Produkte oder Dienstleistungen für Verbraucher anbieten, darunter E-Commerce-Plattformen, Bank- und Finanzdienstleister, Telekommunikationsanbieter, Verkehrsdienstleister und Softwarehersteller. Kleinstunternehmen (weniger als 10 Beschäftigte und ein Jahresumsatz oder eine Bilanzsumme von höchstens 2 Millionen Euro) sind in der Regel von den Anforderungen des BFSG ausgenommen, sofern sie Dienstleistungen erbringen. Sofern ein Kleinstunternehmen jedoch Produkte herstellt bzw. vertreibt, die unter das BFSG fallen, müssen die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllt werden und die Ausnahmeregelung greift nicht. Die Leitlinien zur Anwendung des BFSG sind mit zahlreichen Praxisbeispielen gespickt und bieten eine sehr gute Orientierung.

Welche Punkte sind aus Ihrer Sicht notwendig, um die rechtlichen Rahmenbedingungen bestmöglich zu erfüllen?

Den Rahmen schaffen die WCAG, also die Web Content Accessibility Guidelines, in der Version 2.1 (AA-Level) – darin ist alles genau beschrieben. Es gibt aber ein paar grundlegende Dinge, die sich in der Regel mit überschaubarem Aufwand realisieren lassen und die dabei helfen, die Zugänglichkeit von Online-Angeboten stark zu verbessern. Dazu zählen Farbkontraste, Tastatursteuerung, Formulare, Navigationsmenüs, Schriftgrößen, Alternativtexte und einige Aspekte der technischen Barrierefreiheit, wie Überschriften-Hierarchien oder ARIA-Attribute. Jede Webseite ist anders und es braucht Fingerspitzengefühl, Erfahrung und den langen Atem, denn Barrierefreiheit ist kein Sprint.

Welches Vorgehen raten Sie Unternehmen bei der Planung und Umsetzung des Barrierefreiheits-Projekts? Wie beurteilen sie den Aufwand, den Firmen zu erwarten haben?

Idealerweise bezieht man Barrierefreiheit mit in die Planung bei einem Relaunch ein. Der Aufwand ist bei einem Relaunch nicht ganz so hoch, wie bei spontanen Nachbesserungen. Letzteres ist wie eine Operation am offenen Herzen und birgt viele unkalkulierbare Risiken, die natürlich auch den Aufwand nach oben schrauben können. Ich bin früher schon oft gefragt worden, was Barrierefreiheit den kostet. Das ist so ähnlich, wie die Frage: „Was kostet ein Auto?“ – letztlich hängt das an zu vielen Faktoren, um darauf konkret zu antworten.

Beispielsweise kann es sein, dass Unternehmen ihre Webseiten auf veralteten Content Management Systemen betreiben – dann ist es manchmal sogar ratsam, direkt einen Relaunch anzuvisieren. Oder es werden vorgefertigte Themes und Templates genutzt, die sich nicht anpassen lassen – da ist guter Rat dann sprichwörtlich teuer. Ich würde mir freiberufliche Berater*innen suchen, eine Bestandsaufnahme machen und nächste Schritte mit sehr konkreten ersten Schritten planen. Und das mit Aufwandsschätzungen unterfüttern. Das hilft dann beim Priorisieren von Maßnahmen genauso, wie bei der Umsetzung.

Womit sollten Verantwortliche rechnen, was sie möglicherweise noch nicht auf der Agenda haben? Gibt es typische Stolpersteine?

Man sollte nicht zu optimistisch sein. Ich halte es für unrealistisch, jetzt noch schnell etwas bis zum 25. Juni hinzubiegen – dafür hätte man deutlich früher anfangen müssen. Stolpersteine können überall auf dem Weg lauern, vom Content Management System, über den Online-Shop bis zu nicht barrierefreien Farben und Schriftarten, die im Corporate Design festgeschrieben wurden. Vor allem auf technischer Ebene gibt es zahllose Fallstricke, die oftmals unsichtbar miteinander verwoben sind. Formulare beispielsweise, die aus einem Fremdsystem (z.B. CRM, ERP, Helpdesk) in die Webseite eingebunden werden und auf die man keinen direkten Einfluss hat.

Vor allem aber inhaltliche Aspekte, denn der größte Teil aller Webseiten besteht in unterschiedlichen Inhalten und Medien – vom Alternativtext bis zu Leichter Sprache reicht dann die Bandbreite. Ein wenig ist das so, wie bei der Anschaffung einer neuen Anlage in einem Industrieunternehmen: Gute Vorbereitung ist die halbe Miete, aber man muss vorher auch schon an den laufenden Betrieb, Service und Erweiterbarkeit denken.

Welche Sanktionen oder Konsequenzen drohen Unternehmen, die die Vorgaben des BFSG nicht einhalten?

Unternehmen, die die Vorgaben des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes nicht einhalten, müssen mit Sanktionen wie Bußgeldern, Zwangsgeldern, Abmahnungen, Unterlassungsklagen und sogar Vertriebsverboten rechnen. Zusätzlich drohen Vertragsstrafen durch Geschäftspartner, wenn vereinbarte Barrierefreiheitsstandards nicht eingehalten werden. Verbraucher können Verstöße melden, und die zuständige Marktüberwachungsbehörde kann anordnen, dass Produkte oder Dienstleistungen, die nicht barrierefrei sind, zurückgerufen oder vom Markt genommen werden. Unternehmen sind verpflichtet, ihre Konformität mit den Barrierefreiheitsanforderungen zu dokumentieren und auf Anfrage Nachweise vorzulegen. Eine Nichteinhaltung dieser Pflichten kann ebenfalls sanktioniert werden.

Ihre Meinung: Ist das BFSG eher eine Plage oder eine Chance für digitale Markenauftritte?

Ich bin ganz klar im „Team Chance“! Von Barrierefreiheit profitiert einfach jeder, ob durch schnelle Ladezeiten, gute Kontraste oder benutzerfreundliche Navigation. Viele Aspekte für Barrierefreiheit finden sich in den PageSpeed Insights von Google wieder und sind damit Bestandteil des Rankings in den Suchergebnissen. Wenn man es also nicht für die Benutzer*innen macht, dann vielleicht aus Gründen der Suchmaschinenoptimierung.


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