Stories und Zukunftsszenarien: So klappt der Einstieg in die strategische Vorausschau
Immer mehr Unternehmen befassen sich systematisch mit möglichen Zukünften. Dabei muss es nicht immer das große Foresight-Projekt sein. Lernen Sie, wie Industrieunternehmen mit den richtigen Fragen, der Entwicklung von Szenarien und Futuretelling den Einstieg in die strategische Zukunftsbetrachtung schaffen – und dabei eine Menge Kreativität freisetzen können.
Wann ist der sicherste Zeitpunkt für eine Prognose? Kurz nach dem Eintritt des Ereignisses! Dieses Bonmot von Churchill ist genauso richtig wie verdrießlich. Die Zukunft ist natürlich nicht vorhersehbar. Eine Black Box. Purer Stress für alle, die sich um die weitere Entwicklung eines Unternehmens kümmern. Gleich, ob Geschäftsführer, Produktentwickler oder Marketing- und Kommunikationsmanager. Idealerweise benötigen sie eine klare Vorstellung davon, in welche Richtung sich das Unternehmen, Produkte oder die Kunden-Ansprache weiterentwickeln müssen – und mit welchen zukünftigen Kräften, die am Unternehmen rütteln, sie zu rechnen haben. Je weiter entfernt die Zeitpunkte, desto schwerer wird es, Trends hochzurechnen, Disruptionen zu erahnen, technologische Entwicklungen im Blick zu haben. Was in zehn Jahren ist – wer weiß das schon?
Leichter hingegen ist es, in Zeiträumen von ein paar Wochen zu denken, ein paar Monaten, bis zum nächsten großen Auftrag vielleicht. Ach, selbst das dürfte schon schwierig sein angesichts der chaotischen politischen und wirtschaftlichen Weltlage.
Inhaltsverzeichnis
Die Leitfrage der Zukunftsforschung: Was wäre wenn…?
Was also tun? In jedem Fall nicht in die Glaskugel schauen, sondern in Medien, am besten in branchenfremde Medien. Für die Industrie könnten das zum Beispiel Technologie-Magazine wie Wired oder Technology Review, Newsletter von Fraunhofer oder Plattformen wie Reddit sein (siehe Auflistung der Methoden) – vor allem auch Medien aus dem fernen, aber zukunftsträchtigen Ostasien. Hier findet man erste Hinweise, sogenannte Weak Signals, zu Entwicklungen, die sich an den Rändern des Marktes, der Forschung oder der Gesellschaft auftun. Das mögen noch so abstruse Produkte, Angebote oder Entwicklungen sein, die man entweder als Spinnerei abtun kann, oder sich stattdessen die Frage stellt: Was wäre, wenn dieses Produkt das neue Normal wäre? Mit diesem Mindset geht man mit einem anderen, einem prüfenden Blick durch die Welt und schärft seine Sinne für mögliche Geschäftsrisiken – aber auch für neue Geschäftsmodelle, die am Wegesrand liegen und darauf warten, aufgegriffen zu werden.
Die vielen Möglichkeiten der Zukunft ausloten – mit Hilfe von Stories
Ohnehin gilt: Spaß an der Zukunftsschau ist ausdrücklich erwünscht. Wer sich zum ersten Mal mit dem Thema strategische Vorausschau beschäftigt, wird merken: Neben zum Teil sehr aufwändigen wissenschaftlich-statistischen Herangehensweisen, wie Delphi-Methode, Bibliometrie – die Auswertung wissenschaftlicher Publikationen – oder dem Monitoring von Patenten, haben sich in den letzten Jahren partizipative Kreativ-Formate etabliert, die sich in Workshops mit Mitarbeitenden in Unternehmen durchführen lassen.
Bei diesen Methoden geht es im ersten Schritt nicht um wissenschaftliche Korrektheit oder statistische Strenge, sondern um Kreativität. Je bunter, provokanter im ersten Schritt, desto besser. Szenarien, Stories, Headlines, Artefakte aus der Zukunft – alles, was Ideen (und von denen möglichst viele) von der Zukunft hervorruft, ist erlaubt. Die Idee ist: 1. Viele Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. 2. Auch das Unerwartete, vielleicht sogar Fantastische ins Blickfeld zu bekommen. 3. Kolleginnen und Kollegen bzw. Mitarbeitende mitzunehmen.
Unkomplizierter Einstieg – aber mit Methode
Hier ein paar einfache Formate, die sich leicht in den Arbeitsalltag einflechten lassen – oder in kurzen Sprints durchgeführt werden können:
- Flip the Future: Man verkehrt Annahmen über die Gegenwart in ihr Gegenteil um. Aus „Roboter haben kein Bewusstsein!“ wird „Roboter haben ein Bewusstsein!“ Oder aus: „Fabriken sind fest mit dem Boden verbunden und lassen sich nicht bewegen!“ wird „Fabriken sind nicht fest verbunden und lassen sich – so wie ein Caravan – in wenigen Tagen von A nach B bewegen!“ Je mehr solcher Gegensatzpaare ich habe, desto besser. Ableitungen fürs Business, Plausibilitätsprüfungen und Untermauerungen kommen später.
- Futures Wheel: In der Mitte eines Flipcharts steht ein Trend oder ein Ereignis. Die Leitfrage dabei lautet wieder: Was wäre, wenn? Also, zum Beispiel: „Was wäre, wenn in der Produktion nur noch humanoide Roboter arbeiteten?“ Oder: „Was wäre, wenn der weltweite Vorrat an Aluminium morgen aufgebraucht wäre?“ Aus dieser Leitfrage ergeben sich direkte Konsequenzen. Diese wiederum zeitigen weitere Konsequenzen und weitere Konsequenzen. Wir suchen die Folgen der dritten Ordnung. Auf diese Weise entsteht ein Spinnennetz aus Abhängigkeiten, aus denen man wieder mögliche Risiken oder die wünschenswerten Pfade wählen kann.
- Tipping Points: Das sind kleine Ereignisse, die große Unterschiede machen können. Man stellt fest, dass bestimmte Ereignisse mehrere Zukünfte beeinflussen können. Auf diese kann sich die Geschäftsstrategie künftig konzentrieren. Diese Ereignisse lassen sich unter anderem aus den zuvor genannten Formaten ableiten. Oder man führt ein regelmäßiges Radar ein für Weak Signals.
- Signal Scanning: Weak Signals sind zunächst verborgene Trends, die aber das Geschäft bedrohen oder auch Chancen kreieren können. Die Mitarbeitenden lernen, über den Tellerrand zu schauen, und in ihrer täglichen Arbeit nach solchen Signalen Ausschau zu halten. Man findet diese Signale in Medien, auf Messen, bei modernen Künstlern und Ausstellungsmachern, bei Architekten und Modedesignern. Oder auf dem Cheat Sheet ChatGPT, indem man gezielt nach ihnen fragt.
- Moodboards (online): Hier können Teilnehmende Bilder, Musik, Texte etc. sammeln, die ein Bild von der gewünschten Zukunft vermitteln. Auch hier gilt die Leitfrage: Was wäre, wenn?
- Futuretelling: Szenarien, beispielsweise aus den Moodboards, werden in packende Geschichten verpackt. Mit einem oder mehreren Protagonisten, einem zentralen Konflikt und der Antwort auf die Frage: Wie bringen wir die Story zu einem Happy End? Wenn man Mitarbeitende auf die Zukunftsreise mitnehmen will, braucht es vor allem greifbare Geschichten. Sie schaffen ein einheitliches Verständnis und eine gemeinsame Identität. Das gilt um so mehr, wenn die Teilnehmenden an solchen Formaten diese Geschichten selbst entwickeln. Nicht jeder ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, aber in der Gruppe entstehen oft packende Stories über die Zukunft, etwa über den Tagesablauf eines Kunden im Jahr 2040. Das klingt nach Science-Fiction, bietet allerdings nutzbringende Impulse für die Gegenwart und die Strategie des Unternehmens in den kommenden Jahren.
Foresight-Prozesse im Unternehmen etablieren
Dies ist eine kleine Auswahl an Formaten als schneller Einstieg in die strategische Zukunftsschau. Je nach Anspruch und Ziel können und müssen deren Ergebnisse weiter genutzt werden. Foresight und die damit verknüpften Formate sind kein einmaliges Event, sondern ein Prozess, mehr noch: ein Bekenntnis zu einer lebendig sich verändernden Unternehmenskultur. Man muss sich das wie einen Muskel vorstellen. Benutzt man ihn nicht regelmäßig, verkümmert er. Auch der Zukunftsmuskel will trainiert werden. Deshalb sollten solche Formate regelmäßig angewandt werden. Sinnvoll ist, nicht ein Format immer wiederzukäuen, sondern eine Abfolge aus größeren und kleineren Formaten in passenden Zeitabständen. Dazu braucht es eine Planung, die laufend Ziele und Erreichtes vergleicht und Maßnahmen anpasst.
Neues Aufgabenfeld für Kommunikatoren
Übrigens: Für Kommunikatoren öffnet sich hier eine spannende neue Rolle. An der Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Unternehmen haben sie ein besonderes Gespür für gesellschaftliche Strömungen, Absatzmärkte, Kundenbedürfnisse, Markttrends, und sie erkennen Krisenherde frühzeitig. Statt am Ende des Innovationsprozesses Produkte und Services zu kommunizieren, können sie Teil von Produktentwicklung, Risikoeinschätzung oder strategischer Geschäftsentwicklung werden. Abgesehen davon: vor allem sie besitzen die Fähigkeit, gute Geschichten zu erzählen.
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