„Predictive Intelligence ist ein Konzept für alle Unternehmen!“

[no_toc] Marketing-Experte Dr. Uwe Seebacher erläutert im bvik-Gespräch, was die größten Trends im B2B-Marketing in den nächsten Jahren sind, warum Predictive Intelligence an Bedeutung gewinnt und für welche Unternehmen sich Datenmodelle eignen.

Dr. Uwe Seebacher
Marketing-Experte

Dr. Uwe Seebacher, Autor des Buches „Predictive Intelligence für Manager“, ist promovierter Volks- und Betriebswirt. Er ist Executive Advisor und verfügt über mehr als 25 Jahre Top-Management-Erfahrung als Berater, Manager und Unternehmer. Uwe Seebacher ist international bekannt für seinen seit 2003 erstmals publizierten innovativen Template-based Management (TMB)-Ansatz

Bildquelle: ANDRITZ AG

 

Inhaltsverzeichnis

bvik: Lieber Herr Dr. Seebacher, Sie standen beim TIK DIGITAL 2020 auf der virtuellen Bühne, da eine Präsenzveranstaltung aufgrund der Corona-Krise nicht möglich war. Was war das für eine Erfahrung und wie haben Sie den TIK DIGITAL 2020, die Leuchtturm-Veranstaltung des bvik, erlebt?

Dr. Uwe Seebacher: Mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Einerseits wäre ich sehr gerne live auf der tollen Bühne gestanden, um die Atmosphäre zu erleben und dann vor allem bei der NACHT DER INDUSTRIEKOMMUNIKATION in vielen bereichernden Gesprächen mich mit den herausragenden Experten austauschen zu können. Andererseits war ich begeistert vom virtuellen Set-up des Events und der professionellen Abwicklung. Es war wirklich eine tolle Veranstaltung.

Der TIK DIGITAL 2020 stand ganz im Zeichen des Mottos „Identity – Technology – Emotion“. Was verbinden Sie mit dieser Trilogie? Welche Herausforderungen gehen Ihrer Meinung nach für B2B-Unternehmen damit in den nächsten Jahren einher?

Seebacher: B2B-Unternehmen müssen viele verschiedene Herausforderungen in den kommenden Jahren meistern. Fast schon zu viele, weil einiges in den letzten Jahren verschlafen worden ist. Zum einen werden sie mit immer mehr disruptiven Geschäftsmodellen und Unternehmen konfrontiert sein, die es darauf anlegen, alles infrage zu stellen. Diese Unternehmen und deren Bosse sind agiler, flinker und mutiger als die meisten der klassischen, konservativen Industrieunternehmen. Zum anderen stehen B2B-Unternehmen vor einem Paradigmenwechsel im Bereich des technischen Vertriebs. Dies wird verursacht durch unter anderem ein geändertes Einkaufsverhalten durch neue Einkäufer – nämlich mehr und mehr Millennials – und die Möglichkeit immer größere Teile des Verkaufsprozesses automatisiert und personalisiert abzuwickeln. Daraus ergibt sich ein völlig neuer strategischer Stellenwert von B2B-Marketing, der aber auch vom Management der Industrieunternehmen erstmals erkannt werden muss. Das ist nämlich selbst größtenteils über- und veraltet und verkrustet, und für die Misere des deutschen Wirtschaftsstandortes in Bezug auf Digitalisierung oder Industrie 4.0, wie dies Studien vielfach belegen, selbst zum großen Teil mitverantwortlich.

Es wird in Zukunft den klassischen Verkäufer nicht mehr geben, sondern wie es Kotler definiert, wird der Vertrieb als Funktion des Go-to-Markets im Sinne der Distribution eine Teilfunktion des Predictive Profit Marketings sein müssen. Das heißt, nur wenn Marketing und Vertrieb auf dieser Basis eng abgestimmt miteinander agieren, werden Unternehmen in einem sich immer rascher ändernden Umfeld nachhaltig erfolgreich sein können. VW hat bereits diesen Schritt gemacht und den Bereich Digital, Vertrieb und Marketing in eine eigene Organisationseinheit zusammengepackt. Eine weitere Herausforderung stellt die „Remocal Economy“ dar, die darauf abstellt im Spannungsfeld zwischen einem „remoten“ Handeln aufgrund von Virus-bedingten Reiseeinschränkungen und der zunehmenden lokalen Ausrichtung des wirtschaftlichen Handelns mit Blick auf den „New Green Deal“ und das „ethische Unternehmen“ verstärkt heimische und lokale Produkte und Unternehmen zu fördern.

Das dritte große Feld der Herausforderungen stellt die „Netflix-Industrie“ oder auch „As-a-Service“-Ökonomie dar. Es wird in Zukunft nicht mehr gekauft, sondern geliehen, geleast oder gemietet. Auch im B2B-Bereich werden wir den Wandel hin zu einer mehr und mehr derivativen Wirtschaft vollziehen und Unternehmen und deren Bosse, die hier nicht rasch und entschieden die entsprechenden Maßnahmen setzen, werden auf der Strecke bleiben und massiv an Marktanteilen verlieren.

Ihr Vortragstitel lautete: „Predictive Intelligence: Die Zukunft gehört jenen, die sie kennen und gestalten!“ Können Sie dies näher erläutern bzw. erklären, wie dies zu verstehen ist?

Seebacher: Wer heute nicht in der Lage ist, sein Business auf Basis von exakten Zahlen und Vorhersagen zu managen, ist quasi im Blindflug unterwegs – und offen gestanden, ich bin schockiert, wie viele Unternehmen das anscheinend immer noch sind. Es ist so, als ob ein Pilot die Koordinaten für sein nächstes Reiseziel nicht kennen würde. Würden Sie da gerne einsteigen wollen? Predictive Intelligence ist sogenanntes vorausschauendes Wissen. Auf Basis von verschiedenen, validen Daten aus unterschiedlichen internen und externen Quellen werden vergangenheitsbezogen Informationen generiert und diese dynamisch mit verschiedenen Einflussparametern und definierten Algorithmen verarbeitet. Darauf aufbauend wird diese Information in die Zukunft extrapoliert – kurz-, mittel- und langfristig. Auf diese Weise kann ich so zum Beispiel kurzfristig meinen Cashflow oder mein Networking-Capital optimieren oder langfristig meine Strategie definieren, evaluieren und gegebenenfalls adjustieren – nicht im Blindflug, sondern auf Basis von eigens im Unternehmen generierten und validierten Informationen.

Wie groß sind die notwendigen Investments für Spezialisten, Technologie beziehungsweise die zeitlichen Ressourcen für die Datenmodelle?

Seebacher: Wenn man das Thema sinnvoll aufsetzt, sind keine Investments erforderlich, denn Predictive Intelligence, kurz PI, kann nachhaltig in Unternehmen nur funktionieren und Mehrwert stiften, wenn man Schritt für Schritt das Modell und das Wissen dazu selbst aufbaut. Es bringt nichts, wenn man in diesem Bereich Wissen und Kompetenz oder eine Software extern zukauft. Das einzige, was sinnvoll ist extern zu beschaffen, sind speziell ausgesuchte und genau validierte Daten oder Datenbanken, um rascher das entsprechende Volumen an Daten in den verschiedenen Märkten zu generieren. Die Entwicklung von Datenmodellen und Algorithmen ist ein gradueller Prozess. Mit dem richtigen Konzept kann man Predictive Intelligence mit einem Teilzeit-Mitarbeiter oder mit einem studentischen Mitarbeiter mit entsprechenden Vorkenntnissen ohne Weiteres beginnen aufzusetzen.

In der Datenaufbereitung benötigt es sicherlich sehr viel Know-how und Spezialwissen, das im Marketing in dieser Form normalerweise nicht zu ausreichend vorhanden ist. Wie wichtig ist das Heranziehen von Daten-Experten? Wie sollten die Teams allgemein zusammengesetzt sein?

Seebacher: Predictive Intelligence wird nur funktionieren, wenn man es in einer Organisation intrinsisch aufsetzt. Dies ermöglicht ein „Wachsen mit der Aufgabe“. Das bedeutet, dass auch die Datenaufbereitung einem Lernprozess unterliegt. Wie bereits eingangs angesprochen, ist es immer wichtiger, dass Vertrieb und Marketing eng abgestimmt miteinander agieren. Im Bereich von PI muss der Vertrieb die Rolle des Sounding-Boards einnehmen, um im Rahmen der Dateninterpretation und – Validierung mit seinem Know-how zu unterstützen. Auf dieser Basis können dann in Bezug auf die verschiedenen internen Kundengruppen die Daten spezifisch in interaktiven und dynamischen Dashboards aufbereitet werden. Gefragt nach der Zusammensetzung von Teams kann ich nur sagen, es gibt keine Teams. Wer im B2B kann schon auf große Ressourcenpools und Teams zurückgreifen? Niemand. Daher muss Marketing so clever sein, von sich aus, sich jeweils die richtigen Partner und Kompetenzträger ins Boot zu holen. Wichtig dabei sind die Zielkomponenten Kompetenz aber auch Akzeptanz.

Für welche Unternehmen eignen sich die Datenmodelle bzw. sind diese überhaupt realistisch umsetzbar – eher nur für große Global Player oder für jeden Mittelständler (KMU)?

Seebacher: PI ist ein Konzept, das für alle Unternehmen conditio sine qua non ist, genauso wie Koordinaten und Flugleitsysteme für alle Arten und Größen von Flugzeugen gleichermaßen gelten. Wer im Blindflug fliegt, gefährdet sich und alle anderen, nämlich im übertragenen Sinn nicht nur die Investoren, sondern vor allem auch die Mitarbeiter und deren Familien. Darum ist mir so daran gelegen, PI zu entmystifizieren. Es gibt so viele Anbieter im Markt, die das Thema hypen und mit fast schon unseriösen und schlechten Lösungen den Unternehmen das Geld aus der Tasche ziehen, weil zu wenig Aufklärung geschieht und nicht ausreichend Wissen im Markt vorhanden ist. Jeder Unternehmer muss ein PI entsprechend seiner Unternehmensgröße zum eigenen Schutz und aus Sicht des Risikomanagements aufbauen. Das bedeutet, keinem Hype zu folgen, sondern einfach die Hausaufgaben zu machen, sonst wird das Unternehmen auf lange Sicht den Bach hinunter gehen.

Wie zuverlässig sind die Vorhersagen solcher Datenmodelle und wo liegen die Grenzen? In welchen Situationen muss der „gesunde Menschenverstand“ dazu geschaltet werden?

Seebacher: Vorsicht – PI bedeutet nicht Hirn und Verstand auszuschalten. Genauso wie ein Pilot bei Gewittern oder Problemen sein Wissen und seine Erfahrung einsetzt, darf und soll PI und die sich daraus ableitenden Vorhersagen nur als Basis für Diskussionen, Planung und Entscheidungen erachtet werden. Gefährlich wird es, wenn man sich alleine auf Computer verlässt, denn dann fährt man, wie wenn man sich im Auto nur auf das Navi verlässt, an die Wand. Der gesunde Menschenverstand sollte immer angeschaltet bleiben. Das Ziel ist es aber, nicht von externen Daten und Reports abhängig zu sein, deren Validität und Güte man nicht einschätzen kann. Darum ist es so wichtig, PI im Rahmen eines schrittweisen Prozesses intern selbst im Unternehmen – egal welcher Größe – aufzusetzen. Und das Thema als solches ist nicht neu. Unternehmensstrategische Entscheidungen sollten seit jeher auf Basis von möglichst soliden Zahlen, Daten und Fakten getroffen werden. Nur die Möglichkeiten und Open-Source-Instrumente haben sich enorm verbessert und wer sich das nicht zu Nutze macht, ist selbst schuld.

Zum Schluss möchten wir noch auf ein spezielles Projekt von Ihnen eingehen. Im April erscheint im Springer Verlag ihr „Praxishandbuch B2B-Marketing Handbuch“. Provokant gesagt, gibt es schon unzählige dieser Bücher. Was war die Intention hierfür? Was ist das Besondere an Ihrem Buch bzw. welche Themen werden dort aufgegriffen?

Seebacher: Da liegen Sie völlig falsch. De facto klafft eine enorme Lücke in diesem Bereich. Es existiert kein Buch, das so umfassend alle aktuellen Begriffe und Themen beschreibt, diskutiert und in Form von zahlreichen Fallstudien in der Praxis zeigt. Ein solches Buch war bisher auch nicht möglich, weil es auf Basis meines völlig neuen und erstmals publizierten Reifegradmodells zum B2B-Marketing aufbaut, was es Unternehmen aller Größen erlaubt, den Prozess von passiv-reaktivem hin zu Predictive Profit Marketing zu gehen. Und das bestätigt auch das enorme weltweite Interesse an diesem Buch, aber auch die Tatsache, dass sich einige der führenden Marketing-Vordenker und –Professoren an den Springer Verlag gewandt haben, um an diesem mehr als 400 Seiten starken wegweisenden Leitfaden zu modernem und nachhaltigen Industriegütermarketing mitzuarbeiten.

Das Buch liefert auch einen Blick auf die Zukunft des B2B-Marketings. Auch im brandaktuellen bvik-Trendpaper sind Sie vertreten und sprechen über die Trends im B2B-Marketing. Worauf muss sich die Branche in den nächsten Jahren einstellen, welche Themen müssen B2B-Marketer auf der Agenda haben?

Seebacher: B2B-Marketing steht vor einem Paradigmenwechsel. B2B-Marketers waren bisher entweder Mitarbeiter, die ins Marketing gesetzt wurden, um sonst im Unternehmen keinen Schaden anzurichten oder aber Vertriebsassistenten, die das Thema neben her mitmachen sollen. Marketing war eben die Broschüren-produzierende und Messen-organisierende Dödeltruppe – ein Kostenfaktor. Damit ist nun Schluss, denn kein Unternehmen kann sich eine solche Abteilung in Zeiten von Marketing und Sales Automatisierung, der Remocal Economy und der „As-A-Service“-Ökonomie leisten. B2B-Marketing muss und wird in Zukunft wesentlich und messbar durch immer neue technische Hilfsmittel, Instrumente und Tools immer größere Teile des Umsatzes einspielen. Dies wird den Return-on-Sales signifikant verbessern und es dem Vertrieb erlauben, in enger Abstimmung mit dem Marketing sich nur mehr auf „warme“ Leads zu konzentrieren. Jene Manager, die das von ihrem B2B-Marketing nicht proaktiv einfordern, sind selbst schuld und werden mit der Zeit auch Geschichte sein. Je früher man diesen Veränderungsprozess einzufordern beginnt bzw. sich den richtigen B2B-Marketers ins Unternehmen holt, um in Richtung Predictive Profit Marketing zu gehen, umso größer werden die Wettbewerbsvorteile nachhaltig sein – zum Wohle aller, nicht nur der Investoren der Eignerfamilie, sondern auch der Mitarbeiter und ihren Familien.

 


Mehr zum Thema „Trends 2021“